Wie ist es, einander anzusehen?
Eigentlich wollte Reither nur in Ruhe seinen apulischen Rotwein trinken – wie an jedem Abend. An diesem Abend jedoch ereignete sich etwas, das mit Geräuschen hinter seiner Wohnungstür begann. In der Novelle „Widerfahrnis“ beschreibt …
… Bodo Kirchhoff die erste Begegnung zweier Menschen, die mittlerweile in der nun geöffneten Wohnungstür stehen. In der Art dieser Begegnung erscheint ihr augenblickliches Ende zunächst ebenso wahrscheinlich zu sein wie ein erster Schritt über die Schwelle einer sich anbahnenden Liebesbeziehung:
„Sie rauchen also filterlos.
Ja. Immer schon.
Würden Sie mich hereinbitten, würde ich eine mitrauchen. Obwohl ich aufgehört habe, seit ich hier wohne.
Dann sollten Sie es auch dabei belassen.
Ist das Ihr letztes Wort?
Was weiß ich, sagte Reither. Außerdem mag ich keine langen Dialoge. Ich mochte sie auch in Büchern nie. Sie zeugen meist nur von Erzählfaulheit.
Aber Sie und ich, wir sind hier nicht in einem Buch. Wir stehen in Ihrer Wohnungstür.
Nein, nur Sie. Ich stehe in der Wohnung. Außer Sie kommen herein. Und wir rauchen eine.“
Unbeirrt von der anfänglichen scheuen Zurückhaltung des Mannes entfaltet sich das Geschehen in einer Weise, die nicht zuletzt von der natürlichen Unbekümmertheit der Besucherin getragen wird. Im weiteren Verlauf des Abends geschieht dann sogar noch dies:
„Sie nahm einen Keks, brach ihn entzwei und hielt ihm eine Hälfte hin, er griff danach und steckte sie in den Mund, sie aß die andere Hälfte und sah ihn beim Kauen an. Oder er, Reither, sah sie, die Palm an, die ihm beim Kauen zusah – ab einer gewissen Nähe weiß man nicht mehr recht, wer wen eigentlich ansieht, als würden die Blicke ineinanderlaufen wie die Farben auf einem Aquarell.“
Ich finde die Beschreibung dieses intimen Augenblicks umwerfend. Mit ein paar wenigen Worten schafft es der Autor, die von allen Menschen geteilte und zumeist ungestillte Sehnsucht zu bezeugen, nicht nur angeschaut, sondern wirklich gesehen und dabei zutiefst erkannt zu werden. Bisweilen ist das der Beginn einer Erfahrung, die schließlich „Bindung“ genannt wird.
Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis. Frankfurter Verlagsanstalt 2016
WITH THAT MOON LANGUAGE
Admit something: Everyone you see, you say to them, „Love me“.
Of course you do not do this out loud, otherwise someone would call the cops.
Still though, think about this, this great pull in us to connect.
Why not become the one who lives with a full moon in each eye that is always saying, with that sweet moon language, what every other eye in this world is dying to hear?
IN DIESER MONDSPRACHE
Gib’s doch zu: Jedem, den Du siehst, möchtest Du sagen, „liebe mich“.
Natürlich sagst Du das nicht laut, sonst ruft noch jemand die Polizei.
Dennoch denke über diesen immensen Drang nach, uns verbunden fühlen zu wollen. Warum dann nicht zu dem Menschen werden, der mit einem Vollmond in beiden Augen und in dieser süßen Mondsprache unentwegt das ausspricht, wofür jeder andere Augenmensch auf Erden sein Leben geben würde, wenn er es nur zu hören bekäme?
HAFIZ