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Denken und Wissen

Vor 300 Jahren, im Jahr 1724, kam Immanual Kant in Königsberg zur Welt. Aus diesem Anlass wird der große Philosoph der Aufklärung in zahlreichen Publikationen gewürdigt, die seinem Leben und Werk gewidmet sind. …

… In einer dieser Veröffentlichungen vertiefen sich der Philosoph Omri Boehm und der Schriftsteller Daniel Kehlmann in verschiedene Aspekte der Philosophie Kants. Der forderte als Ausstieg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit: „Denkt bei euch selber“. Boehm erklärt dazu: „Denken ist der Prozess, der beginnt, wenn man erkennt, dass man nicht im Stande des Wissens ist.“ Die Unterscheidung zwischen „Denken“ und „Wissen“ ist auch für die Psychotherapie interessant. Aber zeigt sich nicht gerade hier, dass wir uns unaufhörlich in Denkschleifen verlieren und uns das zwanghafte Grübeln überhaupt nicht gut tut? Das stimmt – doch ist hier vielmehr ein Denken gemeint, das eine Form unterscheidenden Gewahrseins darstellt. Diese machtvolle Befähigung des menschlichen Verstandes steht ganz im Dienste der Erfahrung dessen, was sich in unserem Erleben ganz unmittelbar zeigt. Erkenntnis entsteht dann in einem dynamischen Prozess, in dem sich eine Erfahrung schon wieder in die nächste hinein öffnet und wir in dieser Erkundung schließlich dem immer näher kommen, was unser Dasein in seiner Tiefe ausmacht. Dann entsteht die Gewissheit, dass sich Wirklichkeit immer wieder neu in ihren verschiedenen Aspekten darbietet, so dass wir tatsächlich nicht „im Standes des Wissens“ sein können. Das ist, was Sokrates – lange schon vor Kant – seinen Schülern gelehrt hat, nämlich zu wissen, dass sie nicht wissen. Deshalb öffnen wir uns auch in der Psychotherapie dem, was wir nicht wissen und stellen in Frage, was wir bereits sicher zu wissen glauben.

Omri Boehm, Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant. Propyläen Verlag 2024

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Geliebte Köchin

Der gleichnamige Film bietet opulenten Augenschmaus. Gegen Ende fällt ein Satz, der dann sogar noch aufhorchen lässt. Die Frau fragte da nämlich den Mann, wie es für ihn möglich war, über viele Jahre als Liebhaber an ihrer Seite auszuharren, …

… bis sie nach langer Zeit endlich doch in die Ehe mit ihm einwilligte. In seiner Antwort zitiert er Augustinus: „Liebe ist, jemanden zu begehren, den man bereits hat“. Abgesehen davon, dass nicht eindeutig belegt ist, ob der christliche Theologe und Philosoph Aurelius Augustinus tatsächlich der Weisheitsgeber ist oder ob der Satz am Ende gar Wilhelm Busch zugeschrieben werden müsste, so gibt er doch zu denken. Tatsache ist nämlich, dass hier der landläufigen Meinung widersprochen wird, dass sich Liebe und Begehren umgekehrt proportional zueinander entwickeln, je länger eine Paarbeziehung währt – auf Kosten des Begehrens. Folgt ihre Entwicklung tatsächlich einer Gesetzmäßigkeit, vor der es kein Entrinnen gibt? Ist sie Ausdruck einer zwangsläufig einsetzenden Macht der Gewohnheit? Glaubt man am Ende den Partner oder die Partnerin so gut zu kennen, dass der Reiz des Neuen vollständig verflogen ist? Bodo Kirchhoff schreibt in seiner Novelle „Nachtdiebe“: „Die Zeit, die man mit einem Menschen verbringt, wird irgendwann zum Vertrag, den beide ohne es zu merken durch ihre bloße Anwesenheit unterzeichnen.“ Was im „Kleingedruckten“ dieses ungeschriebenen Vertrags steht, beschreibt also die Gewohnheiten, die Menschen über Jahre in der Paarbeziehung entwickelt haben – und diese sind nicht immer von Vorteil. Untersucht man den Beziehungsvertrag aber genauer, so könnte sich doch herausstellen, dass beide Partner einstmals darin übereingekommen sind, einander immer und immer wieder neu zu entdecken. Wenn das wirklich zur ihrer Gewohnheit geworden ist, dann haben sie bereits das Rezept, sich tatsächlich unentwegt weiter begehren zu können und darin auch nicht müde zu werden, so lange ihre Paarbeziehung währt.

Geliebte Köchin, Regie: Tran Anh Hung, Hauptdarsteller: Juliette Binoche, Benoît Magimel, Frankreich 2023; Bodo Kirchhoff: Nachtdiebe. Frankfurter Verlagsanstalt 2023

NICHT MÜDE WERDEN
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten
HILDE DOMIN

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Wie ist es, einander anzusehen?

Eigentlich wollte Reither nur in Ruhe seinen apulischen Rotwein trinken – wie an jedem Abend. An diesem Abend jedoch ereignete sich etwas, das mit Geräuschen hinter seiner Wohnungstür begann. In der Novelle „Widerfahrnis“ beschreibt …

… Bodo Kirchhoff die erste Begegnung zweier Menschen, die mittlerweile in der nun geöffneten Wohnungstür stehen. In der Art dieser Begegnung erscheint ihr augenblickliches Ende zunächst ebenso wahrscheinlich zu sein wie ein erster Schritt über die Schwelle einer sich anbahnenden Liebesbeziehung:
„Sie rauchen also filterlos.
Ja. Immer schon.
Würden Sie mich hereinbitten, würde ich eine mitrauchen. Obwohl ich aufgehört habe, seit ich hier wohne.
Dann sollten Sie es auch dabei belassen.
Ist das Ihr letztes Wort?
Was weiß ich, sagte Reither. Außerdem mag ich keine langen Dialoge. Ich mochte sie auch in Büchern nie. Sie zeugen meist nur von Erzählfaulheit.
Aber Sie und ich, wir sind hier nicht in einem Buch. Wir stehen in Ihrer Wohnungstür.
Nein, nur Sie. Ich stehe in der Wohnung. Außer Sie kommen herein. Und wir rauchen eine.“
Unbeirrt von der anfänglichen scheuen Zurückhaltung des Mannes entfaltet sich das Geschehen in einer Weise, die nicht zuletzt von der natürlichen Unbekümmertheit der Besucherin getragen wird. Im weiteren Verlauf des Abends geschieht dann sogar noch dies:
„Sie nahm einen Keks, brach ihn entzwei und hielt ihm eine Hälfte hin, er griff danach und steckte sie in den Mund, sie aß die andere Hälfte und sah ihn beim Kauen an. Oder er, Reither, sah sie, die Palm an, die ihm beim Kauen zusah – ab einer gewissen Nähe weiß man nicht mehr recht, wer wen eigentlich ansieht, als würden die Blicke ineinanderlaufen wie die Farben auf einem Aquarell.“
Ich finde die Beschreibung dieses intimen Augenblicks umwerfend. Mit ein paar wenigen Worten schafft es der Autor, die von allen Menschen geteilte und zumeist ungestillte Sehnsucht zu bezeugen, nicht nur angeschaut, sondern wirklich gesehen und dabei zutiefst erkannt zu werden. Bisweilen ist das der Beginn einer Erfahrung, die schließlich „Bindung“ genannt wird.

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis. Frankfurter Verlagsanstalt 2016

WITH THAT MOON LANGUAGE
Admit something: Everyone you see, you say to them, „Love me“.
Of course you do not do this out loud, otherwise someone would call the cops.
Still though, think about this, this great pull in us to connect.
Why not become the one who lives with a full moon in each eye that is always saying, with that sweet moon language, what every other eye in this world is dying to hear?

IN DIESER MONDSPRACHE
Gib’s doch zu: Jedem, den Du siehst, möchtest Du sagen, „liebe mich“.
Natürlich sagst Du das nicht laut, sonst ruft noch jemand die Polizei.
Dennoch denke über diesen immensen Drang nach, uns verbunden fühlen zu wollen. Warum dann nicht zu dem Menschen werden, der mit einem Vollmond in beiden Augen und in dieser süßen Mondsprache unentwegt das ausspricht, wofür jeder andere Augenmensch auf Erden sein Leben geben würde, wenn er es nur zu hören bekäme?
HAFIZ

Was ist das gute Leben?

Wir sind Suchende und können in unserer Ambitioniertheit auch nicht aufhören, immer und immer weiter zu suchen. Als Suchende ergreifen wir jede der sich bietenden Chancen, die uns ein erfülltes Leben verheißen und …

… uns mit unserer Sterblichkeit versöhnen mögen, so dass wir am Ende doch sagen könnten, es habe sich gelohnt, dieses Leben auf sich genommen zu haben. Marianne Gronemeyer bringt es auf den Punkt: Es ist unser Wunsch, ein gutes Leben zu führen und wir erfüllen uns diesen Wunsch in einem „Leben als letzte Gelegenheit“. Doch sind wir so wirklich zufrieden? Könnte es nicht sein, dass wir auf der Suche nach dem guten Leben immer wieder enttäuscht werden, weil wir immerfort an falscher Stelle suchen?
Unter einer Straßenlaterne bewegt sich ein Mann auf allen Vieren und sucht. Er sucht und sucht, jeden Quadratzentimeter des Gehwegs abtastend, sich in alle Richtungen bewegend – unermüdlich. Kommt sein Nachbar daher und wie er ihn sieht in seinem Bemühen, fragt er, was er denn suche. „Meinen Schlüssel“, antwortet der Mann. Nun lässt sich auch der hilfsbereite Nachbar auf den Boden nieder und sie suchen beide. Nach geraumer Zeit will der Nachbar wissen, ob sich der Mann denn sicher sei, dass er den Schlüssel gerade hier verloren habe. „Nein, nein“, antwortet dieser etwas verlegen, „ich glaube, es war da hinten – aber hier ist viel mehr Licht!“
Wir suchen da, wo das meiste Licht ist, nämlich genau dort, wo unser Blick ganz automatisch hinfällt – auf Äußerlichkeiten. Davon überzeugt, dass unsere Lebenszufriedenheit von äußeren Quellen des Glücks abhängt, haben wir alle nicht nur einmal die Erfahrung machen müssen, dass die Wirkung der erstrebten Gratifikation wie ein kurzlebiges Strohfeuer alsbald wieder verpufft ist. Was macht demgegenüber ein nachhaltig gutes Leben aus? Für die Philosophin Eva von Redecker zeichnet sich ein gutes Leben durch „Bleibefreiheit“ aus. Während „Reisefreiheit“ erlaubt, sich uneingeschränkt bewegen, sowie häufige und schnelle Ortswechsel vornehmen zu können, definiert sie Freiheit neu, nämlich an einem Ort zu leben, an dem wir tatschächlich bleiben könnten (was die Reisefreiheit keineswegs einschränkt). Sie möchte damit Ansatzpunkte zur Lösung der ökologischen Krise auch von der Frage her bestimmen, was ein „gutes Leben“ für jeden Menschen ausmacht, der auf die zunehmend prekärer werdenden Umweltbedingungen angemessen Rücksicht nimmt.
Während der Lektüre ihres Buches habe ich mir vorgestellt, wie unsere Welt wohl aussehen würde, in der jedem Menschen die Freiheit garantiert wäre, genau da bleiben zu können, wo auch immer er sich gerade niedergelassen hat. Dies ist in einer Zeit großräumiger Migrationsbewegungen keineswegs mehr selbstverständlich. Trotz bedrohter Lebensbedingungen genießen wir hierzulande das Privileg, unsere Lebensgewohnheiten weitgehend noch beibehalten zu können, ohne uns betroffen zu fühlen. Für viele Menschen hingegen, die schon jetzt heimatlos leben, ist das Unbehagen im Klimawandel bereits heute hautnah spürbar. Der Philosoph Nikolaj Schultz nennt dieses Unbehagen „Landkrankheit“.
Wir müssen erst von ihr befallen werden, um schließlich den Wert von Beibefreiheit ermessen zu können.

Eva von Redecker: Bleibefreiheit. S. Fischer Verlag 2023; Nikolaj Schultz: Landkrank. Suhrkamp Verlag 2024; Marianne Gronemeyer: Das Leben als letzte Gelegenheit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014

We are always leaving ourselves. So as we learn to value not arriving, we arrive – for true arriving is a matter of not leaving.
Immer verlassen wir uns selbst. Wenn wir also zu schätzen lernen, nicht anzukommen, kommen wir an – denn wahrhaft anzukommen bedeutet, niemals weggegangen zu sein.
A. H. ALMAAS

You do not need to leave your room. Remain sitting at your table and listen. Do not even listen, simply wait, be quiet, still and solitary. The world will freely offer itself to you to be unmasked, it has no choice, it will roll in ecstasy at your feet.
Es ist nicht notwendig, daß Du aus dem Haus gehst. Bleib bei Deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich Dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor Dir winden.
FRANZ KAFKA 1920, Zürauer Zettel, Nr. 109b

O Solitude! My sweetest choice

Immer wieder höre ich diese Arie, vorgetragen von Countertenor Philippe Jaroussky. Einsamkeit ist in unserer alternden Gesellschaft schon längst ein Politikum – Menschen verlieren ihre Einbettung …

… in gewachsene soziale Gemeinschaften, leben isoliert und völlig auf sich allein gestellt. Wie kann also Henry Vaughan in seinem Gedicht behaupten (es stammt aus seinem 1650 verfassten Werk „Silex Scintillans“, während die Arie selbst von seinem Zeitgenossen Henry Purcell komponiert wurde), dass Einsamkeit die süßeste Wahl überhaupt ist? Vielleicht ist mit „Solitude“ doch eher „Alleinsein“ gemeint – im Unterschied zu „Einsamkeit“. Macht diese Unterscheidung überhaupt Sinn? Ja, sie macht Sinn, denn auf dem spirituellen Weg ist die Erfahrung von Alleinsein eine wichtige Wegmarke. Ihr begegnet man dann, wenn sich die Überzeugung zu lockern beginnt, als ein „separates Selbst“ zu existieren. Statt dessen öffnet sich im unmittelbaren Erleben ein Erfahrungsraum, in dem der einzelne Mensch sinnbildlich als Welle im Ozean aufzugehen beginnt. Man spricht dann auch von einem sich einstellenden „ozeanischen  Gefühl“. Das ist wahres Alleinsein, in dem man sich nicht mehr an anderen Menschen als primärer Bezugsquelle orientiert. Dann kann das entstandene Lebensgefühl formelhaft beschrieben werden als „in dieser Welt und nicht von dieser Welt“ zu sein. In diesem Zustand ist es paradoxerweise möglich, in direktem Kontakt mit einem anderen Menschen zu stehen und dabei weiterhin vollkommen allein zu sein. In diesem Alleinsein fühlt man sich vollständig – es ist die süßeste Wahl!

Philippe Jaroussky: Passion Jaroussky. Warner Classics, Erato 2019

BEDINGUNGSLOS
Wenn ich bereit bin, Einsamkeit zu erleben,
Entdecke ich Verbindung überall.
Wenn ich mich der Angst zuwende,
Treffe ich den Krieger, der in mir lebt.
Wenn ich mich meinem Verlust öffne,
Spüre ich die Umarmung des Universums.
Wenn ich mich der Leere hingebe,Finde ich endlose Fülle.
Jeder Zustand, vor dem ich fliehe, verfolgt mich.
Jeder Zustand, den ich willkommen heiße, verwandelt mich
und wird selbst verwandelt
in eine strahlende juwelenartige Essenz
JENNIFER WELWOOD

Nie wieder Krieg?

Das Foto schaute mich an – so der Titel der „Kolumnen“ der in Kiew geborenen Journalistin Katja Petrowskaja. Zu diesem Foto schreibt sie: „Ein alter Mann schaut in die Kamera. Er ist erschöpft und verzweifelt, als hätte er Monate in Verstecken verbracht. …

… Im ersten Moment denke ich, es sei  Berlin. Es ist aber Prag. Ich hatte nicht gewusst, dass Prag im August 1968 von den Truppen des Warschauer Pakts so stark beschossen worden war. Der Mann steht auf der Vinohradská-Straße, ich kenne die Straße, erkenne sie aber nicht wieder. Dieses Foto stammt von dem tschechischen  Fotografen Josef Koudelka, der zu einem der wichtigesten Chronisten dieser Tage geworden ist und der die Initialen von Josef K. trägt, der Hauptfigur in Kafkas »Prozess«. Der alte Mann schaut in die Kamera, als sehe er die junge Generation, die gerade erstickt, die verliert, die sich unterwirft.“
Berlin 1945, Prag 1968, Charkiw 2022. Heute sehen wir die Schreckensbilder aus dem Ukraine-Krieg. Dazwischen hielten zahllose kriegerische Auseinandersetzungen die Welt und vor allem die betroffenen Menschen in Atem. Nie wieder Krieg? Es  scheint, als lernte die Menschheit nicht dazu, im Gegenteil: Wie bestialisch alle Kriege verlaufen, können wir gerade heute tagtäglich beobachten. Dabei ist der Vergleich mit der Tierwelt keineswegs angebracht, denn Menschen sind unübertroffen, was das Ausmaß ihrer Grausamkeit gegenüber ihren menschlichen Opfern anbetrifft …

Katja Petrowskaja: Das Foto schaute mich an. Kolumnen. Suhrkamp Verlag 2022; Josef Koudelka, „Prag beim Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts“ (Ausschnitt), 1968, © Josef Koudelka/Magnum Photos/Agentur Focus; Felipe Dana,  „Unzählige Gebäude in Charkiw wurden durch russischen Beschuss im Ukraine-Krieg schwer beschädigt“ (Ausschnitt), 2022, © Felipe Dana/AP/dpa

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