Vom Zweck der Bücher

Der große amerikanische Schriftsteller Paul Auster erlag Ende April 2024 seinem Krebsleiden. In seinem letzten Roman lese ich auf den ersten Seiten: …

… „Nur deshalb bestellt Baumgartner ständig Bücher, die er nicht braucht und niemals aufschlägt und irgendwann der örtlichen Bücherei spenden wird – allein zu dem Zweck, ein oder zwei Minuten in Mollys Gesellschaft zu verbringen, wenn sie bei ihm klingelt und die Bücher bringt.
Guten Morgen, Professor, sagt sie und schenkt ihm ihr leuchtendes Lächeln wie einen Segen. Mal wieder ein Buch für Sie.
Danke, Molly, sagt Baumgartner und nimmt lächelnd das schmale braune Päckchen entgegen. Wie geht’s Ihnen heute?
Es ist noch früh – zu früh für eine Antwort –, aber bis jetzt sind die Hochs höher als die Tiefs tief. Es ist nicht leicht, an einem so herrlichen Morgen Trübsal zu blasen.“
Molly entschwindet zu ihrem Lieferwagen und für Baumgartner endet diese Unterredung viel zu schnell, der seit dem Tod seiner geliebten Frau schon viele Jahre allein lebt.
Für mich, der ich das Buch soeben im Buchladen erstanden und im Café gegenüber auch gleich zu lesen begonnen habe, endet das Lesevergnügen noch nicht. Das Buch musste zudem nicht erst ausgepackt und konnte auch gleich aufgeschlagen werden. Für Baumgartner hingegen erfüllt jedes gelieferte Buch, selbst wenn es in seiner Verpackung verbleibt, den gleichen Zweck, nämlich eine Brücke in die Fülle des Lebens zu schlagen. Fülle zeigt sich überall – ob in einem literarischen Werk oder in einer alltäglichen Szene – und man fragt sich, was ist dann überhaupt „Fiktion“, was ist „Realität“ und wie unterscheiden sich die beiden?

Paul Auster: Baumgartner. Rowohlt Verlag 2024

Es ist das Leben selbst, das zeigt, wofür wir leben.
ULRIKE FOLKERTS
Christ & Welt Nr. 21, 8. Mai 2024

16. Mai 2024

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