Lebenswege
Kaspar, der im Roman „Die Enkelin“ später Großvater genannt wird, sucht die Tochter seiner unlängst verstorbenen Frau Birgit, welche von ihr in der damaligen DDR zurückgelassen wurde. …
… Zu ihren Lebzeiten hat sie das Kind niemals erwähnt. Nach ihrem Tod erfährt Kaspar von seiner Existenz und beschließt, nach ihm zu suchen. Schließlich findet er die erwachsene Frau in einer ostdeutschen völkischen Lebensgemeinschaft, deren Überzeugungen sie teilt und verteidigt. Hier lernt er auch deren 14-jährige Tochter Sigrun kennen, die zunächst loyal zu ihren Eltern stet und sich mit den Werten der Lebensgemeinschaft identifiziert. Die Beziehungsdynamik zwischen Großvater und Enkelin entfaltet sich sodann im Roman: Da ist zum einen der Großvater, der seine Beziehungssehnsucht und seinen Wunsch, weltanschaulich korrigierend wirksam zu werden, unter einen Hut zu bringen versucht. Zum anderen ist da die Wissbegierde des begabten Mädchens, das in der Auseinandersetzung mit dem Großvater allerdings auch um seine Eigenständigkeit ringt. In dem kommunikativen Tanz beider können Großvater und Enkelin nicht anders, als sich zu wandeln und an dieser Beziehung zu wachsen. In eindrucksvoller Weise stellt die Enkelin in dem überraschenden Finale des Buches unter Beweis, dass sie einem Lebensentwurf folgt, der ihr nicht vorgegeben werden konnte, sondern der ihr ganz eigener ist.
Bernhard Schlink: Die Enkelin. Diogenes Verlag, Zürich 2021